Warum eine außerhäusliche Unterbringung absolut nichts mit “Weggeben” zu tun hat

 

 

So oft habe ich schon vorgehabt zu diesem Thema etwas zu schreiben, doch letztlich habe ich es immer gelassen. 1. fehlt mir schon lange die Zeit zum regelmäßigem Bloggen, und 2. habe ich in der Vergangenheit nun schon häufig erlebt wie ich  – häufig besonders von anderen Autisten oder Eltern von Autisten – aufgrund meiner ehrlichen Einblicke in meine Gefühlswelt durch deren einseitige Sichtweisen und sehr festen Meinungen sehr verletzt wurde.

 

Gerade vor einigen Tagen habe ich wieder in einer Gruppe etwas gelesen. Ein Statement einer Mutter eines autistischen Kindes, die nicht verstehen kann wie jemand dazu kommen kann sein Kind „wegzugeben“. Man habe dieses Kind ja schließlich gewollt, und könne es doch dann nicht einfach weggeben wenn es zu schwierig ist.

 

Ich möchte diese Ansicht auch gar nicht verurteilen, denn vor einigen Jahren habe ich selber noch ganz klar gesagt – nachdem ein Jugendamt Mitarbeiter eine Heimunterbringung angesprochen hatte- dass dies NIEMALS für uns in Frage kommen würde. Denn wir lieben unseren Sohn ja über alles!

 

 

Manchmal muss man eben Dinge selber erleben um andere verstehen zu können.

 

Unser Tim lebt momentan in einer Wohngruppe und dies hat absolut gar nichts mit fehlender Liebe zu tun. Unsere Liebe für ihn wird niemals geringer sein als sie am Tag seiner Geburt war. Wir lieben ihn ganz genauso wie unsere anderen Kinder auch.

 

Doch manchmal muss man im Leben unglaublich schwierige Entscheidungen treffen. Entscheidungen, die ich nie glaubte treffen zu müssen. Dieses Eingeständnis, dass ich hier zu Hause das Wohl und die Sicherheit aller nicht mehr gewährleisten kann, und dass Tim hier niemals die Chance haben würde wieder in die Schule gehen zu können, war schon harter Tobac. Keine Mutter, kein Vater gesteht sich so etwas gerne selber ein.

 

Bei uns kamen verschiedene Dinge zusammen. Zuallererst Tims Bedürfnisse, die ja nun sehr besonders sind. Wer sich, aufgrund meines Blogs, schon ein wenig mit PDA beschäftigt hat, der weiß vielleicht schon, dass PDA’er meist ganz extreme und höchst aggressive Verhaltensweisen haben und sprichwörtlich über Leichen gehen um alles und jeden unter Kontrolle haben zu können.

 

Dazu kam, dass Michael einen neuen Job anfangen musste, wodurch er unter der Woche 300km von uns entfernt lebt und nur von Freitagnacht bis Sonntagabend hier bei uns ist.

Ich bin also unter der Woche komplett alleine mit den Kindern, ohne Verwandte o.ä. die mich hätten unterstützen können.

 

Da allein Tim aber eine Person ganz für sich alleine benötigt, es ja aber noch drei weitere Kinder hier zu versorgen gibt – von denen ja, nebenbei bemerkt, zwei ebenfalls spezielle Bedürfnisse haben – ist es durch mich allein schlicht nicht zu stemmen. (Gerade just in dem Moment bekam ich übrigens  einen Anruf der Schule dass ich meinen 2-Klässler abholen muss…)

 

Tim in einer speziellen Wohngruppe mit Förderschule unterzubringen  war sowohl für ihn als auch für uns die richtige Entscheidung, da es um die Sicherheit und das Wohl aller ging. Aber wenn jemand glaubt, dass die Entscheidung leicht war, dann merkt man, dass diese Menschen keine Ahnung haben. Und wenn jemand glaubt man fänd es schön, sein Kind nicht beim Rest der Familie zu haben und endlich ‚Ruhe zu haben‘ der hat auch keine Ahnung wie es tatsächlich ist.

 

 

Was gut und richtig für uns ist, ist nicht unbedingt das Richtige für andere

 

Auch wenn es der richtige Schritt (in unserem Fall!!) war, so ist es dennoch ja nicht so, dass es für jeden Autisten das Beste ist. Nur wegen stressigem Alltag würde wohl kaum jemand darauf kommen sein Kind außerhäuslich unterzubringen (WEGGEGEBEN haben wir unseren Sohn NIE. Er ist absolut vollständiges Familienmitglied.).

 

Unser Ziel ist es nach wie vor, unsere ganze Familie wieder an einem Ort zu haben. Damit es wieder klappen kann, dass auch Tim wieder zu Hause lebt, haben wir gerade unser Haus verkauft und ziehen 300km weit weg.

 

Die Entscheidung, Tim in einer Wohngruppe unterzubringen, die tägliche Sehnsucht nach unserem Ältesten, die war schon schwierig genug. Was für uns aber ganz schlimm war waren die Bemerkungen und Vorurteile einiger anderer Autisten oder Eltern von Autisten, die uns als egoistisch etc hingestellt haben.

 

Jeder Autist ist anders. Und jede familiäre Situation ist anders. Unser Sohn tut sich ganz enorm schwer in unserer Umwelt. Andere schaffen es ganz gut. Bei wieder anderen ist’s vielleicht schwer aber zu managen. Bei anderen Familien gibt es vielleicht Unterstützung vor Ort oder sind ja auch einfach noch belastbarer als wir es sind?!

 

Ehe unser Sohn (und er ist ja gerade mal 11!) in der Wohngruppe und Förderschule angefangen hat, war er zuvor 2 Jahre lang nicht beschulbar gewesen, mehrfach stationär in KJP, mehrfach musste das Ordnungsamt kommen etc.

 

Jetzt hat er innerhalb eines Jahres zwei Schuljahre aufgeholt, hat nur 1en auf dem Zeugnis, hat das erste Mal in seinem Leben Freunde und wird so angenommen und gemocht wie er ist. Aber selbst das nur, weil das Jugendamt hier uns trotz Intensiv Wohngruppe und Förderschule eine vollumfängliche Schulbegleitung gewährt hat. Daran sieht man vielleicht welch große Unterstützung er benötigt. Das kann weder eine normale Schule leisten, noch ich alleine zu Hause.

 

Wir freuen uns darauf, dass unser Großer bald wieder ganz bei uns leben kann, aber die Entscheidung für die Wohngruppe war definitiv die richtige. Auch kann ich nicht leugnen, dass wir großen Respekt davor haben, Tim wieder ganz zu uns nach Hause zu holen. Denn dafür muss ich nun an einem neuen, mir fremden Standort eine passende Schule, eine Tagesgruppe und generell Unterstützung für Tim und uns finden. Denn nur dann kann dies auch klappen. Und auch dann wird es stets eine große Herausforderung sein, der wir uns aber stellen möchten.

 

Man kann nie von der einer Situation auf die andere schließen. Umstände sind anders, Menschen sind anders. Und wenn einem dann in einer solch schwierigen Zeit und Entscheidung auch noch ein schlechtes Gewissen gemacht wird, dann ist es wirklich überhaupt nicht hilfreich.

 

Wir alle müssen Verständnis für unsere Mitmenschen haben, statt dazu zu neigen andere für deren Tun und Handeln zu verurteilen nur weil wir glauben es anders und besser machen zu können.